Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen entsteht offener Narzissmus, gerne auch als „grandioser Narzissmus“ bezeichnet, durch ein komplexes Zusammenspiel von genetischen, neurobiologischen und umweltbedingten Faktoren:
Genetische Veranlagung:
Studien zeigen, dass Narzissmus zu einem gewissen Grad vererbt werden kann. Bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, wie geringe Empathie oder erhöhte Selbstbezogenheit, können genetisch disponiert sein.
Allerdings sind die genetischen Komponenten weniger schwerwiegend als psychosoziale Einflüsse. Während eine genetische Basis vorhanden sein kann, wird die Ausprägung narzisstischer Züge vor allem durch Umweltfaktoren geformt.
Frühe Kindheitserfahrungen:
- Übermäßige Bewunderung: Wenn Kinder übermäßig gelobt und idealisiert werden, ohne dass die Basis dafür reale Leistungen oder Eigenschaften sind, entwickeln sie eine verzerrte Selbstwahrnehmung.
- Mangelnde Grenzen: Ein Umfeld, in dem alles erlaubt ist und keine angemessenen Grenzen gesetzt werden, kann narzisstische Züge begünstigen.
- Elterliche Inkonsistenz: Schwankungen zwischen extremer Anerkennung und plötzlicher Abwertung oder Gleichgültigkeit können dazu führen, dass das Kind ein instabiles Selbstbild entwickelt und Anerkennung durch Überlegenheit sucht.
Vernachlässigung:
- Emotionale Vernachlässigung: Kinder, die emotional oder körperlich vernachlässigt werden, entwickeln oft ein instabiles Selbstbild. Sie lernen, dass ihre Bedürfnisse nicht wichtig sind, und kompensieren dies später möglicherweise durch ein übersteigertes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Bewunderung.
- Körperliche Vernachlässigung: Grundlegende Bedürfnisse wie Nahrung, Hygiene, medizinische Versorgung oder ein sicherer Lebensraum werden nicht erfüllt. Dies kann zu Gefühlen von Wertlosigkeit und einem tiefen Misstrauen gegenüber anderen führen, was später durch narzisstisches Verhalten kompensiert wird.
Gewalt:
- Kinder, die körperlicher, emotionaler oder Seelischer Gewalt ausgesetzt sind, entwickeln oft maladaptive Bewältigungsstrategien.
- Grandioser Narzissmus kann hier als Abwehrmechanismus gegen tiefsitzende Scham und Angst dienen. Durch die Erfahrung von Machtlosigkeit entsteht manchmal das Bedürfnis, Kontrolle und Dominanz über andere auszuüben, um das eigene Trauma zu kompensieren.
Kompensation von Unsicherheiten:
- Grandioser Narzissmus kann auch als Abwehrmechanismus gegen tiefe Selbstzweifel und ein geringes Selbstwertgefühl entstehen. Die grandiose Fassade dient dazu, innere Unsicherheit zu überspielen.
Kulturelle Einflüsse:
- Eine leistungsorientierte, individualistische Gesellschaft, die Erfolg, Macht und Selbstdarstellung belohnt, kann narzisstische Tendenzen verstärken.
Neurobiologie:
- Studien weisen darauf hin, dass bei Narzissten bestimmte Hirnregionen, die für Empathie und emotionale Regulation zuständig sind, anders funktionieren oder geringer aktiv sind
Offener Narzissmus bei Frauen
Menschen, die in der Kindheit stark misshandelt oder vernachlässigt wurden, entwickeln oft Schutzstrategien, um die erlittenen Verletzungen zu kompensieren.
Basierend auf persönlichen Erfahrungen möchte ich die Dynamiken von offenem Narzissmus an einem Beispiel verdeutlichen. Eine meiner ehemaligen Partnerinnen war eine offene Narzisstin. Als ich für ihre Verhaltensmuster sensibilisiert war, musste ich mich zum Selbstschutz trennen.
Zum Trennungszeitpunkt hatte ich noch die Hoffnung, dass sie meiner Bitte, in Therapie zu gehen, aus Eigeninteresse nachkommen würde. Zu diesem Zeitpunkt war mir noch nicht klar, dass Narzissten in der Regel Schwierigkeiten mit Selbstreflexion haben und ihre Probleme oft auf äußere Umstände projizieren
In ihrem Fall haben folgende Dynamiken in Kindheit und Jugend Einfluss auf ihre Entwicklung gehabt:
Misshandlung durch den Vater:
Emotionale, psychische und körperliche Gewalt hat tiefe Wunden hinterlassen. Kinder lernen in solchen Umfeldern oft, dass sie keinen eigenen Wert haben oder nur dann „gesehen“ werden, wenn sie Kontrolle ausüben oder Aufmerksamkeit erzwingen.
Dies kann dazu führen, dass Betroffene später ein starkes Bedürfnis nach Kontrolle oder Überlegenheit entwickeln, um die empfundenen Hilflosigkeitserfahrungen der Kindheit zu kompensieren
Erste Erfahrung von Mitgefühl und Mitleid:
Als sie mit 16 den elterlichen Haushalt verließ und zu ihrem Freund zog, war das vermutlich der erste Moment, in dem sie Fürsorge und Mitgefühl erlebte. Solche Erfahrungen können ambivalent sein: Einerseits wirken sie heilend, andererseits erkannte sie, dass Mitgefühl manipulierbar ist.
In ihrem Fall vermute ich, dass der Gedanke entstand: „Wenn ich verletzlich wirke oder Mitleid bekomme, kontrolliere ich die Situation und ziehe Aufmerksamkeit und Mitgefühl auf mich, er kann mir dafür nicht böse sein.“
Ausnutzen von Mitgefühl:
Im Laufe der Zeit entwickelte sie unbewusst die Strategie, Mitgefühl als Mittel zur Erlangung von Kontrolle und Bestätigung einzusetzen. Dabei entstanden narzisstische Verhaltensmuster:
- Kam es zu Konflikten, wollte sie bemitleidet werden, um emotional „zu gewinnen“ und gleichzeitig zu vermeiden, je wieder verletzt zu werden.
- Dies gelang ihr unter anderem durch emotionale Erpressung und das Ausnutzen von übergestülpten Schuldgefühlen – man möchte sich ihr gegenüber ja nicht wie der Vater verhalten.
Grandiose Fassade:
Um die tiefe innere Verletzlichkeit zu verstecken, baute sie eine Fassade der Stärke, Unnahbarkeit und emotionalen Kontrolle auf. Diese Fassade beschützte sie vor Scham und dem Gefühl der eigenen Wertlosigkeit. Gleichzeitig ließ sie sich aber nie wirklich auf tiefe emotionale Bindungen ein, was es ihr stellenweise ermöglichte, eiskalt und verletzend zu sein.
Offener Narzissmus bei Männern
Misshandlung oder Vernachlässigung führen also zur Entwicklung von Schutzstrategien, um die erlittenen Verletzungen zu kompensieren. Das gilt natürlich auch für Männer.
Einige Zeit nach meiner Trennung begann ich in einem Unternehmen zu arbeiten und war dort mit einem Vorgesetzten konfrontiert, der meiner verstorbenen Ex irgendwie sehr ähnlich war.
Seine emotionalen Verletzungen waren für mich als empathischer Mensch deutlich spürbar, was die Dynamik unserer Arbeitsbeziehung zusätzlich beeinflusste. Ich erkläre mir seine Entwicklung in etwa so:
Anerkennung durch den Vater (oder Autoritätspersonen):
Da dieser Vorgesetzte als Kind von einer autoritären oder emotional distanzierten Vaterfigur geprägt wurde, könnte er gelernt haben, dass Leistung und Erfolg die einzigen Wege sind, um Anerkennung zu erhalten. Aussagen wie „Ich habe jetzt keine Zeit“ oder „Du verstehst das, wenn du mal in meiner Position bist“ vermitteln dem Kind das Gefühl, nicht wichtig genug zu sein und bedingungslos anerkannt und geliebt zu werden.
Überkompensation durch Leistung und Macht:
Ein Mensch, der in seiner Kindheit das Gefühl von Unzulänglichkeit erlebt hat, kann später versuchen, dies durch Karriere, Status und Dominanz zu überkompensieren. Der narzisstische Drang nach Bewunderung und Kontrolle ist oft ein Versuch, die innere Leere und die Sehnsucht nach emotionaler Nähe zu überspielen.
„Der kleine Junge“ im Erwachsenen:
In meiner Wahrnehmung konnte ich den „kleinen Jungen“ sehen, es war ein Blick hinter die Fassade. Hinter der Fassade aus Überlegenheit, Selbstbewusstsein und Machtdemonstration steckt oft ein verletztes Kind, das verzweifelt versucht, die Zuneigung, Liebe und Aufmerksamkeit zu bekommen, die es nie wirklich erhielt. Diese verletzliche Seite ist für narzisstische Personen oft unerträglich, weshalb sie sie durch grandiose Selbstinszenierung verstecken.
Fehlende Bewunderung als narzisstische Kränkung:
Wenn man so einen Vorgesetzten nicht respektiert und er das wahrgenommen hat, trifft das direkt auf sein fragiles Selbstwertgefühl. Offene Narzissten brauchen ständige Bestätigung und Bewunderung, um ihr Selbstbild aufrechtzuerhalten. Fehlender Respekt wird als massive Kränkung empfunden. Diese Kränkung verstärkt den Wunsch, Kontrolle und Dominanz auszuüben, um die eigene Machtposition zu sichern.
Alter und Reife:
Die Wahrnehmung, dass er „jünger, unreif und unreflektiert“ wirkt, spielt dabei eine Rolle.
Offene Narzissten haben oft das Bedürfnis, als überlegen und kompetent wahrgenommen zu werden. Dadurch, dass ich innerlich seine Reife infrage stellte, hat das wahrscheinlich seine Unsicherheiten getriggert. Er wird sich mir gegenüber unterlegen gefühlt haben, was er durch demonstrative Machtausübung stets zu kompensieren versucht hat.
Projektion und Abwertung:
Narzisstische Personen neigen dazu, ihre eigenen Unsicherheiten auf andere zu projizieren. Da er sich selbst unreif fühlt, hat er mich dafür „bestraft“, dass ich in ihm gespiegelt habe. Unbewusst reagierte er auf mich, indem er versuchte, mich kleinzuhalten oder mir das Leben schwer zu machen, um sich selbst weiterhin überlegen zu fühlen.
Machtkämpfe:
Weil ich ihm seinen gewünschten Respekt nicht entgegenbrachte, konnte er die Dynamik zwischen uns als Machtkampf wahrnehmen. Für Narzissten ist es wichtig, stets die Kontrolle zu behalten und „Sieger“ zu sein, ganz besonders gegenüber Personen, die sie infrage stellen.
Fazit
Bei vielen offen narzisstischen Menschen besteht eine tiefe, unerfüllte Sehnsucht nach elterlicher Anerkennung und Liebe. Das Streben nach Macht, Kontrolle und Bewunderung ist oft nur eine Überkompensation für die eigene Unsicherheit und das Gefühl, nicht genug zu sein.
Die eingeschränkte Fähigkeit zur Selbstreflexion hindert Narzissten oft daran, ihre Verhaltensmuster zu ändern, selbst wenn diese von ihrem Umfeld erkannt und angesprochen oder durch besonders empathische Menschen offengelegt werden. Der stetige Drang nach Kontrolle führt letztlich zur eigenen Demaskierung, dem Verlust des sozialen Umfelds und schließlich zum narzisstischen Zusammenbruch.
Indem wir die Ursachen und Dynamiken von Narzissmus verstehen, können wir nicht nur Betroffenen besser begegnen, sondern auch unsere eigenen Beziehungen und Arbeitsumfelder bewusster gestalten.